Gegen das Verblöden

Bildungsoffensive beim 143. Zungenschlag im Heidelberger Theater

Von Jutta Schneider

Die Bühnendeko ließ es schon erahnen: Große Bücherstapel waren aufgebaut; es musste beim 143. Zungenschlag im Heidelberger Theater wohl um Bildung gehen.

Assistänzerin“ Frau Warth wurde dem mit auffälliger Brille gerecht. Mit ihrer alten – ohne Dioptrien – hatte sie nicht lesen können und war deshalb völlig verblödet. Denn, wie wir alle wissen: Lesen bildet. Aber es ist nie zu spät für einen Grundschulabschluss auf dem dritten Bildungsweg (mit Stipendium der Lukas-Podolski-Stiftung). Und so trumpfte Frau Warth im Verlauf des Abends ganz im Sinne von „Per aspera ad astra“ (frei übersetzt: Durch Umnachtung ans Licht) mit frisch Angelesenem auf.

Die Zungenschlag-Band „Schlag auf Schlag“ bekräftigte mit Sängerin Nina Wurman das Abendmotto mit dem Gershwin-Song „They all laughed“. Bernhard Bentgens vermittelte mit seinem Lied die Erkenntnis: „Wenn Du nichts blickst, dann brauchst du Bildung – und zwar nicht zu knapp“. Recht hat er. Ließ aber seine Darbietung im Ruhrpott-Slang etwa ein Vorurteil durchschimmern?

Im Hörspiel von Jean-Michel Räber geriet Privatdetektiv Harry Stahl in eine wirre Geschichte um eine durch Dackel Romeo vereitelte Professorenentführung. Das „Zungenschlag-Radio“ bot wieder trefflich ausgewählten Politiker-Sprech im O-Ton. Und Gastgeber Axel Naumer las aus seinem Bildungstagebuch – quasi von der Wiege bis zur Bahre: Als Kleinkind soll man dreieckige und runde Bauklötze in einen Steckwürfel einfügen, und am Ende im Seniorenheim soll man dreieckige und runde…

Die scharfzüngigen Wortsalven, die Abendgast René Sydow zum Thema „Bildung“ ins Publikum abfeuerte, brachten es auf den Punkt: Mit Wissen kann man eine Steuererklärung machen, mit Bildung weiß man, dabei zu bescheißen. Aber Lehrerwitze im politischen Kabarett? Da verscherzt er es sich mit seiner Zielgruppe. Dennoch: Wir optimieren uns selbst, und unseren Kindern wird statt Bildung „Just-in-time“-Kompetenz vermitteln. Dabei ist die Zukunft längst an uns vorbeigerast. 90% der europäischen Bevölkerung hat Zugang zum Internet, aber 80 Millionen Europäer können nicht lesen, trotzdem werden Exzellenzzentren gefördert statt Sanierung baufälliger Schulen. Finanzwesen, BWL oder Informatik? Ja, ok. Allerdings ist das nur Wissen mit dreijähriger Halbwertzeit (wie in der Computertechnik), und die Geisteswissenschaften – Bildung von unendlicher Haltbarkeit – bleiben auf der Strecke. Quintessenz: Echter Sachverstand entsteht nur auf der Basis echter Bildung („Am Anfang war das Wort“). Dazu sparte Sydow nicht mit Seitenhieben auf die Politik, denn unser Land funktioniert trotz der Politiker und nicht wegen ihnen: Parteien als „Schrumpfungsformen politischen Gestaltungswillens“. Und – Achtung Wortspiel – wer tatsächlich glaubt, was die AfD erzählt, wird von Rechten gelinkt.

Am Ende war bei der bildungshungrigen Frau Warth die Erkenntnis gereift, es sei gar nicht schlimm, nicht die hellste Lampe auf der Bühne zu sein, denn am Schluss fällt ja immer der Vorhang. Das Publikum belohnte die Zungenschlag-Bildungsoffensive mit begeistertem Applaus.